Am Samstag wurde der Krankentransportwagen zweier ehrenamtlicher Kollegen der Johanniter-Unfall-Hilfe e. V. aus Augsburg Ziel eines gefährlichen Angriffs mit einem noch unklaren Gegenstand. Die Folge: Glücklicherweise unverletzte Kameraden – und eine kaputte Windschutzscheibe. Sachschaden ist ersetzbar, was bleibt, ist eine perfide Tat und der tiefe Schock.
Rettungssanitäter Raphael Doderer war in der Nacht vor Ort – er führte das Fahrzeug, das zur Zielscheibe wurde. In einem Interview mit dem Bayerischen Roten Kreuz rekonstruiert er das Geschehene.
Wie hast du die Nacht von 19. auf 20. Juni in der Augsburger Innenstadt erlebt?
Um 1 Uhr nachts wurden wir, die Schnelleinsatzgruppen der Arbeitsgemeinschaft der Augsburger Hilfsorganisationen, alarmiert. Der reguläre Rettungsdienst konnte die Lage in der Innenstadt nicht mehr bewältigen. Vor Ort waren Kollegen vom BRK, der Johanniter-Unfall-Hilfe, vom Malteser Hilfsdienst und der Bäuerle Ambulanz. Das Meldebild hat auf der Anfahrt harmlos ausgesehen. Ich dachte, es sind eben mehr Einsätze, weil auch mehr Menschen in der Innenstadt sind. Vor Ort angekommen hat es sich dann doch so herausgestellt, dass die Stimmung angespannt und aggressiv war. Wir sind dann auch mit entsprechenden Schutzvorkehrungen in die Einsätze gegangen. Und letztlich war es so, dass wir dann nach und nach abgerufen wurden.
Euer KTW wurde dann auch angegriffen, was ist genau passiert?
Genau, dieser eine Einsatz ging durch die Medien. Wir sind wegen einer verletzten Frau in die Maxstraße gerufen worden. Für uns hat sich das als sicherer Bereich gezeigt – auf der einen Seite war die Polizei und hat die Menschen abgehalten, ebenso wie von der Nebenstraße, sodass wir die Patientin gut ambulant behandeln konnten. Ich habe danach dem BR ein Interview gegeben, weil ich nicht nur Rettungssanitäter bei den Johannitern bin, sondern auch gleichzeitig ehrenamtlicher Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Augsburger Hilfsorganisationen. Während dem Interview flog eine Flasche oder Stein, man weiß es nicht, auf die Frontscheibe unseres KTW, die daraufhin zerborsten ist. Wir sind glücklich, ja gottfroh, dass das Geschoss den Kopf meines Kollegen um 30-50 cm verfehlt hat. Er stand direkt neben dem Einschlagloch. In dem Moment habe ich das Interview sofort abgebrochen, wir sind ins Auto und haben uns sofort zurückgezogen. Wir sind alle auf solche Situationen geschult, um auf solche Gefahren reagieren zu können und sind dann noch sensibler, vorsichtiger in die weiteren Einsätze gegangen. Es gab Zeiten, da waren alle 10 SEG-Fahrzeuge im Einsatz in dieser Nacht. Insgesamt waren es ca. 24 Behandlungen und 6 Patienten mussten in Kliniken transportiert werden. Flaschenwurfverletzungen. Schnittverletzungen, aber auch nach Pfefferspray etc. – das waren die Einsatzbilder.
Sind du oder Kollegen auch direkt angegriffen worden?
Naja, ich würde einen Wurf, der in die Richtung meines Kollegen geht, der seinen Kopf nur knapp verfehlt, als Angehen gegen den Kollegen betrachten. Da kann man sich natürlich drüber streiten, und ich bin nicht derjenige, der dies letztlich zu beurteilen hat. Wenn der Täter ermittelt wird, werden dies wohl Gerichte beurteilen müssen. Persönlich sehe ich nicht nur die Sachbeschädigung unseres Fahrzeuges, sondern das hohe Risiko, dem mein Kollege durch das Wurfgeschoss ausgesetzt war. Andere Kollegen sind bespuckt worden, andere Fahrzeuge wurden auch angegangen. Es war eine grundaggressive Stimmung in Teilen. Es gab aber auch viele friedlich feiernde Menschen.
Wie bist du mit der Situation umgegangen?
Mein Kollege und ich haben uns erstmal rausgenommen. Wir sind beide gottseidank sehr erfahren und haben ein Debriefing gemacht und auch die Lage für uns ernst genommen. Wir sind zunächst nicht mehr in den Einsatz gegangen. Ich habe dann aufgrund dieser Situation eher die Sprecher-Funktion übernommen, um den Einsatzleiter Rettungsdienst zu unterstützen. Später in der Nacht sind auch wir dann wieder in den Einsatz gegangen. Als dann rund 4 Stunden später alles beendet war, sind wir auf die Wache, haben die Scherben entfernt und haben uns um die formalen Aspekte gekümmert. Es ist ja nicht damit getan, dass eine Scheibe zerstört ist – wie wird das Fahrzeug wieder instandgesetzt, was muss mit der Polizei besprochen werden bzgl. Anzeige und so weiter.
Wie gehen du und dein Kollege mit dem Ereignis im Nachgang um?
Wir haben regelmäßig Kontakt, tauschen uns aus, stärken uns gegenseitig. Mein Thema war den ganzen Sonntag über Presseanfragen zu bearbeiten. Mein Kollege hat sich auch dazu bereit erklärt, ein Interview gegeben, aus seiner sehr betroffenen und persönlichen Sicht. Das Fatale ist, dass gestern ein anderer Rettungswagen der Johanniter auf einer Einsatzfahrt einen Unfall hatte – ein schwarzes Wochenende für uns.
Hast du eine derartige Situation schon mal erlebt?
Ich bin 20 Jahre lang ehrenamtlich im Bevölkerungsschutz und Rettungsdienst tätig und das, was ich vergangenes Wochenende erlebt habe, habe ich so noch nie erlebt und will ich auch nicht mehr erleben. Nichtsdestotrotz ist für mich klar, wenn der nächste Alarm kommt, werde ich wieder in den Einsatz gehen. Weil unabhängig von der Hilfsorganisation, ist es etwas, das uns alle antreibt. Wir werden gebraucht, wir sind da, wir wollen helfen.
Wie verhält man sich dann als Retter? Kann man sich wehren? Ist das überhaupt möglich?
Rückzug – das war in dem Fall das einzig Richtige. Ich selbst habe das ein oder andere Training in Sachen Deeskalation und Selbstschutz hinter mir. Darüber bin ich sehr froh, dass wir das als Arbeitsgemeinschaft der Augsburger Hilfsorganisationen schon vor einigen Jahren angeboten haben. Wir lernen alle, dass wir uns auf besondere Einsatzlagen besonders vorbereiten müssen. Es hat mich nochmal darin bestärkt, noch sensibler, noch achtsamer mit Einsätzen und dem Einsatzumfeld umzugehen.
Kannst du anderen Einsatzkräften einen Tipp / Hinweis geben, um solche Situationen in Zukunft zu vermeiden oder - wie man mit solchen Situationen umgehen sollte?
Eigenschutz immer den Vorrang gewähren, das ist essenziell. Als Team zusammenarbeiten, sich gegenseitig auch im Einsatz Feedback geben bei Störgefühlen. Bei dem Folgeeinsatz haben wir sehr intensiv, mehr als wir es ohnehin schon tun, miteinander kommuniziert.
Was möchtest du Feiernden sagen?
Wir unterstützen ein friedliches Feiern, ein friedliches Miteinander. Da sind wir gerne bereit als Sanitätswachdienst dabei zu sein. Aber Gewalt gegen Einsatzkräfte ist inakzeptabel.
Als größte Hilfsorganisationen im Freistaat Bayern sehen wir es als unsere Verantwortung, nach solch tragischen Ereignissen auch über organisationsgrenzen Hinweg gemeinsam mit starker Stimme aufzutreten. Wir alle sind da, um zu helfen – wir sind kein Ziel. #NotATarget
Forschungsprojekt zu Gewalt gegen Rettungskräfte
Unter Koordination des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK) ist am 1. September 2020 ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Forschungsprojekt namens "AMBOSafe" gestartet. Die Abkürzung steht dabei für "Angriffe auf Mitarbeiter*innen und Bedienstete von Organisationen mit Sicherheitsaufgaben". Ziel des Forschungsprojektes ist es, den vorhandenen Wissensstand über körperliche und verbale Angriffe auf Mitarbeiter*innen von Organisationen mit Sicherheitsaufgaben zu erweitern. Hierfür werden auch Berufsgruppen mit einbezogen, die bislang weniger im Fokus der Forschung standen. Neben den in der Forschung regelmäßig untersuchten Berufsgruppen wie Rettungsdienst, Feuerwehr und Polizei werden im Projekt AMBOSafe ebenso Angriffe auf Mitarbeitende von Ordnungsämtern, von Verkehrsunternehmen, von Sicherheitsdiensten, von Notaufnahmen und des Technischem Hilfswerks betrachtet.
Mehr zum Forschungsprojekt: https://ambosafe.de/