Die Schere klafft fortlaufend weiter auseinander, der demografische Wandel wirft seine Schatten voraus: Einer immer älter werdenden Bevölkerung stehen rückläufige Personalzahlen im Fachkräftesektor gegenüber. Und die Prognosen für die Zukunft sind alles andere als beruhigend ganz im Gegenteil: Das Szenario wird sich in den nächsten Jahrzehnten eher verschärfen. Schon heute stellt der Pflegenotstand zahlreiche Einrichtungen, auch die des BRK, vor große Herausforderungen und bringt motivierte Fachkräfte in Krankenhäusern und Pflegezentren an ihre Belastungsgrenzen.
Eine Entwicklung, die nicht ohne Folgen bleibt: Überbelastung führt zu krankheitsbedingten Ausfällen, personelle Fluktuation verschlimmert die Situation vor Ort, gleichzeitig müssen die Pflegeberufe immer noch mit einem Imageproblem kämpfen. Das Dilemma: Obwohl im Grunde absolut krisenfest und mit hervorragenden Aufstiegsmöglichkeiten ausgestattet, verlieren die Pflegeberufe an Anziehungskraft für Quer- und Neueinsteiger.
Doch müssten mit den jüngsten Reformen auf Gesetzesebene nicht eigentlich die Grundlagen für einen nachhaltigen Neustart geschaffen worden sein? Jein. Die bisher angedachten Gesetzesänderungen sind zwar ein erster guter Schritt zur Bekämpfung des Pflegenotstands, jedoch lassen sich die von der Politik angedachten Ansätze in der Praxis nicht so ohne Weiteres umsetzen. Immer noch sind Hilfspakete, Finanzierungen und anderweitige Unterstützungen an Auflagen gekoppelt, die sich nicht einhalten lassen. "Red Tape", dieser Begriff umschreibt im Englischen das, wovon viele Prozesse des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in der Praxis ausgebremst werden: von der Bürokratie.
In puncto Pflegenotstand gilt es, bürokratische Hürden aus dem Weg zu räumen. Sonst werden in Zukunft die Balken des Roten Kreuzes von schwerlöslichen Klebestreifen überdeckt. Doch so berechtigt und essenziell viele Forderungen an die Politik auch sind, so lassen sich die Herausforderungen allein dadurch nicht meistern. Daher bedarf es auch einem Umdenken im Roten Kreuz und bei den weiteren Akteuren im Pflegesektor und der Realisierung bisher ungenutzter Potenziale, um Schritt für Schritt einen Systemwechsel beim Thema Pflege herbeizuführen.
Aufwertung des Berufsbildes
Eigentlich dürfte es gar keinen Personalnotstand in der Pflege geben. Die Beschäftigungsperspektiven quer durch die Bundesrepublik sind gut und es bestehen attraktive Aufstiegsmöglichkeiten. Die Pflege ist ein absolut krisenfester Job, der erfüllend ist, eine hohe Arbeitsplatzsicherheit bietet und der für viele Menschen sinnstiftend wirkt. Wer sich gegen einen Pflegeberuf entscheidet oder beschließt, aus einem auszusteigen, tut dies oft, weil körperliche sowie psychische Belastungen zu hoch geworden sind.
Wenn nur das liebe Geld nicht wäre. Eine intensive politische Diskussion um flächendeckende Tarifverträge in der Pflege hat bereits auf allen Ebenen begonnen, die Gefahren sind schon jetzt absehbar: Flächentarifverträge haben den Nachteil, Verbands- und Trägerunterschiede zu verwischen und berücksichtigen nicht die differenzierten Lebenshaltungskosten in den jeweiligen Regionen Deutschlands. Bei Dienstleistungen, die ortsgebunden sind und nicht verlagert werden können, ist es jedoch gerade an Standorten mit hohen Lebenshaltungskosten wie Ballungszentren unabdingbar, Anreize zu schaffen, wie beispielsweise am Mietzins festgemachte Lösungen.
Doch auch abseits finanzieller Aspekte gilt es, den Pflegeberuf möglichst ansprechend zu gestalten. Eine der wichtigsten Maßnahmen bei der Schaffung eines Klimas, das dazu beiträgt, Mitarbeitende in den Einrichtungen zu halten, ist, auf deren Bedürfnisse einzugehen und Zufriedenheit zu schaffen. Bei einem Frauenanteil von 80 Prozent heißt dies im Klartext, dazu beizutragen, dass sich Beruf und Familienleben nicht im Weg stehen, zumal viele beruflich Pflegende häufig selbst Angehörige pflegen. Daher sind verlässliche Angebote wie beispielsweise eine mitarbeiterorientierte Dienstplangestaltung unabdingbar, um mit einer „doppelten Pflegeaufgabe“ weiter berufstätig zu bleiben.
Pflegefachkräfte und Auszubildende zu halten, ist in Zeiten eines „kannibalistischen Wettbewerbs“ zwischen den Branchen der Kranken- und Altenpflege, aber auch zwischen den Verbänden, Trägern und Einrichtungen selbst zu einer echten Herausforderung geworden. Personalgewinnungsmaßnahmen wie Abwerbeprämien, Antrittsprämien oder Vermittlungszahlungen – inzwischen „branchenüblich“ – sind keine wirksamen Instrumente, da die Mitarbeiter dadurch quantitativ nicht mehr werden, sondern nur innerhalb des Systems rotieren. Der Wettbewerb kann nur über die Qualität der Arbeit laufen und nicht über punktuell gezahlte Vergütungen: Die Arbeitsbedingungen in der Altenpflege – von Löhnen und Gehältern über die Personalbemessung und den Personalschlüssel bis zur Dienstplangestaltung und zur Wertschätzung der Pflegeberufe – müssen sich deutlich verbessern.
Prüfungsniveau angleichen
Wenn wir von Berufen sprechen, übersehen wir gerne deren grundlegendes Wesensmerkmal, nämlich, dass diese systematisch erlernt werden wollen und meistens mit einem Qualifikationsnachweis versehen sind. Die Ausbildung spielt insbesondere in den Pflegeberufen eine zentrale Rolle, umso überraschender ist es, dass im Rahmen der neuen Gesetzgebung das Prüfungsniveau für die Altenpflege abgesenkt wurde. Denn Fakt ist, dass diese Maßnahme eine kontraproduktive Wirkung hat, da das Berufsbild, entsprechend den Anforderungen, auf dem gleichen Niveau wie die Krankenpflege gehalten werden muss.
Akquise von ausländischem Fachkräftepersonal
Neben dem primären Ziel, selbst Fachkräfte in Deutschland auszubilden, ist die Akquise von ausländischem Fachkräftepersonal bereits seit Jahren Thema im gesamtem Deutschen Roten Kreuz. Mittels verschiedener Programme und Projekte sowie der Beauftragung von Recruiting Organisationen wird laufend darauf hingearbeitet, das Personalkontingent im Pflegesektor aufzustocken. Derzeit bereitet das BRK die deutschen Pflegekräfte intensiv auf die Eingliederung der akquirierten Pflegekräfte vor, da die Wenigsten Erfahrungen haben mit interkultureller Zusammenarbeit. Was den Eingliederungsprozess zusätzlich bremst, sind die von den Bezirksregierungen vollzogenen langwierigen Prüfungsverfahren der Pflegequalifikation. Denn diese nehmen sehr viel Zeit in Anspruch. Eine effektivere Lösung würde hier viel bewirken.
Wir müssen das Berufsbild verbessern und brauchen staatliche Unterstützung bei der Fachkraftakquise.
Wolfgang Obermair, stv. BRK-Landesgeschäftsführer
Abbau gesetzlicher und bürokratischer Überregulierung
Es hat sich schon einiges bewegt bei der Bekämpfung des Pflegenotstands. Doch wie so oft gestaltet sich die Umsetzung gesetzlicher Neuregelungen, wie das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz oder dem Pflegeberufegesetz, in der Praxis als weitaus schwieriger, als die gut gemeinten juristischen Weichenstellungen es angedacht haben. Zusätzliche ordnungsrechtliche Anforderungen zur Vergütungszuschlägen oder die „Vereinbarung nach § 132g Abs. 3 SGB V über Inhalte und Anforderungen der gesundheitlichen Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase“ mutieren zu wahren „Bürokratiemonstern“ der Pflegeverwaltung.
Ein weiteres Beispiel: die Einführung der neuen „indikatorengestützten Qualitätsmessung“ ab Oktober 2019. Ein Instrument, das in fachlicher Hinsicht durchaus überzeugt, jedoch einen fast nicht zu stemmenden Schulungsaufwand für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfordert. Bei der bereits bestehenden Personalknappheit aus jeder Einrichtung Mitarbeiter für Schulungstage von der direkten Pflege abzuziehen, die danach ihrerseits wiederum in der Einrichtung ihre Kolleginnen und Kollegen weiterqualifizieren sollen, grenzt im vorliegenden engen Zeitkorridor beinahe an einen „Pflege-Suizid“. Hier bedarf es unbedingt längerer Fristen. Zumal die „indikatorengestützte Qualitätsmessung“ nur ein Projekt unter vielen darstellt.
Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, Pflegeberufegesetz, Versorgung im Palliativbereich: Hochanspruchsvolle Prozesse mit einhergehenden Systemwechseln, die jedoch auch die Frage aufwerfen, wie viel Veränderung überhaupt gestaltbar ist. Eine komplette Ausbildungslandschaft muss neu organisiert werden. All dies bedeutet eine enorme Belastung für Einrichtungs- , Pflegedienst- und Wohnbereichsleitung – die Führungskräfte werden mit einer Fülle an neuen Aufgaben überschüttet.
„Vertrauenskultur“ statt „Misstrauenskultur“
Niedriges Prüfungsniveau in der Ausbildung, externe gesetzliche Qualitätskontrollen, bürokratische Überregulierung: All dies kratzt am Image eines eigentlich sinnstiftenden Berufsbildes.
Wenn zu Zeiten der Schneekatastrophe, bei der überall Haupt- und Ehrenamtliche eingesetzt werden müssen, zum gleichen Zeitpunkt der MDK Bayern aber die Tagespflege auf Einhaltung der Standards prüft, dann kann das schon als Zumutung für die Betroffenen gewertet werden. Denn im Zeichen sich verschärfender Bedingungen müssen wir wieder dahin kommen, dass die Professionalität mit entsprechendem Vertrauen ausgestattet wird. Dies ist unabdingbar, um Menschen wieder für Berufe in der Pflege zu begeistern.