Auf der A5 verunglückt ein Gerüstbauer, Autofahrer nutzen die Rettungsgasse als Überholspur und verstopfen diese, Rettungskräfte müssen sich in voller Montur 800 Meter zu Fuß zu dem Verletzten durchkämpfen - und werden dabei noch von Autofahrern verspottet. Ein Schadensfall und ein Verhalten, wie es in Bayern auch immer häufiger registriert wird. Ein Verhalten, das Menschenleben kosten kann und die Arbeit der Helfer unglaublich erschwert.
Dazu kommen immer mehr Notfallalarmierungen. Die Wege des Rettungsdienstes werden auf Grund eines Wandels in der medizinischen Landschaft immer weiter und die Auswirkungen des demografischen Wandels und des dynamischen Zuzuges nach Bayern sind ebenfalls spürbar.
All diese Entwicklungen setzen den Rettungsdienst unter Druck und gefährden die Sicherstellung der 12-Minuten-Frist („Hilfsfrist“). Der gemäß Art. 7 BayRDG definierte Kennwert besagt, dass mindestens 80% der Notfälle in einem Versorgungsbereich innerhalb einer Fahrzeit von maximal 12 Minuten durch ein qualifiziertes Rettungsmittel erreicht werden müssen. In Bezug auf die Sicherstellung der 12-Minuten-Frist waren die Vorgaben im Jahr 2015 in Bayern in 90% der Versorgungsbereiche erfüllt. Im Jahr 2014 konnte allerdings noch ein entsprechender Wert von knapp 95% erzielt werden. Der Rückgang dieser Erfüllungsquote ist ein Ergebnis, das auf die stetig wachsende Belastung im Rettungsdienst zurückzuführen ist.
Die Hilfsorganisationen stehen im Zentrum dieser Entwicklungen und dienen leider zu häufig als Sündenbock. Im Gegensatz zu anderen Akteuren in dem komplexen System der Zuständigkeiten und Entscheider können sie aber nur wenig an den Entwicklungen ändern. Wir zeigen wer die entscheidenden Akteure sind und was geändert werden muss, um die hohe Qualität im bayerischen Rettungsdienst auch für die Zukunft zu erhalten.
Viele Akteure, ein Ziel?
Für die Sicherstellung ausreichender Kapazitäten und der Einhaltung der Hilfsfrist im Rettungsdienst sind die Zweckverbände für Rettungsdienst und Feuerwehralarmierung (ZRF), ein Zusammenschluss der Kommunen, verantwortlich. Die Kosten für die rettungsdienstlichen Leistungen werden aber nicht von den Kommunen sondern von den Krankenkassen getragen. Für zusätzliche Leistungen müssen die ZRF mit den Krankenkassen in Verhandlungen treten. Um eine valide Entscheidungsgrundlage dafür zu haben, ob zusätzliche Kapazitäten im Rettungsdienst nötig sind ist noch ein weiterer Akteur wichtig:
Das Institut für Notfallmedizin und Medizinmanagement (INM). Das INM wertet die Daten der Datenbank „Rettungsdienst Bayern“ in regelmäßigen Abständen in der TRUST III Studie rückwirkend aus und gibt Handlungsempfehlungen für die ZRF. Auf Grund der retrospektiven Betrachtung kann der tatsächliche Bedarf, allerdings nie abgebildet werden. Das INM wird gemeinsam durch das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr und die in Bayern tätigen Sozialversicherungsträger beauftragt. Erst wenn alle Informationen vorliegen und die Verhandlungen erfolgreich geführt wurden, können die ZRF neue Vergabeverfahren für Leistungen des Rettungsdienstes einleiten. Die Vielzahl der Akteure und der mehrstufige Entscheidungsprozess lassen erahnen, wie zeitintensiv der Prozess von der Problemerkenntnis bis hin zu einer Lösung ist. Während die ZRF besonders die Versorgung der Bevölkerung im Blick haben und sich über alle Maßen engagieren, um die Hilfsfrist einzuhalten müssen die Sozialversicherungsträger insbesondere die Kosten im Auge behalten.
Kapazitäten und Vorhaltestunden gewährleisten rettungsdienstliche Versorgung
Der wichtigste Faktor für die Gewährleistung der Qualität im Rettungsdienst und die Einhaltung der Fristen ist die Bereitstellung ausreichender Kapazitäten, Refinanzierung von Personalkosten und Vorhaltestunden. In Punkto Kapazitäten und Vorhaltestunden muss kontinuierlich aufgerüstet werden. So nahmen im Zehnjahreszeitraum von 2006 bis 2015 zwar die Anzahl der Rettungswachen und Stellplätze, als auch die Anzahl der Notarzt- und Luftrettungsstandorte zu. Im direkten Vergleich erhöhte sich auch die Anzahl der Rettungswachen von 320 auf 336 Standorte (+5%) und die Anzahl Stellplätze von 62 auf 82 Standorte zu (+32%). Die Anzahl der RTW-Vorhaltungen tagsüber stieg im selben Zeitraum ebenfalls kontinuierlich von 413 auf 463 Vorhaltungen (+12%). Aber dieser Zuwachs der Kapazitäten wird der gestiegenen Notfallalarmierung im selben Zeitraum um 54% kaum gerecht.
Die Diskrepanz zwischen Kapazitäten und Bedarf ist insbesondere auf die langwierigen Prozesse zurückzuführen, die für eine Erhöhung der Vorhaltestunden oder eine bessere Refinanzierung des Rettungsdienstes nötig sind. Die retrospektive Betrachtung durch das INM verstärkt diese Diskrepanz. Gerade in Bayern gibt es eine besonders dynamische demografische Entwicklung. Auf der einen Seite ist ein starker Bevölkerungszuwachs in vielen Regionen zu verzeichnen. Auf der anderen Seite sind die Folgen des demografischen Wandels im ländlichen Raum besonders drastisch – vor allem, wenn hier noch ein Rückgang der Hausärzte zu verzeichnen ist. Die gestiegene Einsatzzahl im ländlichen Raum schlägt sich vor allem in einem starken Zuwachs der Fahrleistung des BRK nieder. So wurde zwischen 2015 und 2016 1,5 Millionen Kilometer mehr Strecke mit den Rettungswagen zurückgelegt. Das Bayerische Rote Kreuz fordert deshalb eine schnellere Umsetzung von Vorhalteerhöhungen. Außerdem muss der Rettungsdienst besser refinanziert werden.
Höhere Personalkosten durch tarifliche Löhne und feste Pausenzeiten müssen von den Kostenträgern refinanziert werden.
Leonhard Stärk, BRK-Landesgeschäftsführer
Für die schnellere Umsetzung der Vorhalteerhöhung gibt es die Möglichkeit retrospektive durch prospektive Begutachtungsverfahren zu ersetzen. Dieses Mittel zur Bedarfsplanung wird auch von den ZRF unterstützt.
Prospektive Bedarfsbeurteilung steht auf der Tagesordnung der diesjährigen Klausurtagung der Arbeitsgemeinschaft für Rettungsdienst und Feuerwehren in Bayern.
Christian Bernreiter, Präsident Bayerischer Landkreistag
Die Rolle der Krankenhäuser
Neben der Zeit bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes am Notfallort und der damit verbundenen Frage nach Kapazitäten und Vorhaltestunden ist auch die Dauer bis zum Erreichen einer geeigneten Behandlungseinrichtung von großer Bedeutung. Für wesentliche Krankheits- und Verletzungsbilder wie beispielsweise dem schweren Schädel-Hirn-Trauma wurde von den wissenschaftlichen Fachgesellschaften für das Zeitintervall von Notrufeingang in der Leitstelle bis zu Übergabe des Patienten in die Notaufnahme einer geeigneten Klinik, dem sogenannten Prähospitalzeitintervall, eine maximale Länge von 60 Minuten gefordert:
Bei dem wichtigen Wert des Prähospitalzeitintervall liegt das Bayerische Rote Kreuz derzeit in fast 100% der Fälle deutlich unter einer Stunde, aber auch hier sehen wir für die Zukunft im ländlichen Raum Risiken.
Andreas Estermeier, Leiter integrierte Leitstellen und Landrettung
Neben dem Wandel in der Ärztelandschaft ist im Flächenland Bayern auch eine Veränderung in der Krankenhauslandschaft zu verzeichnen. Auf Grund von Klinikspezialisierungen und Klinikprivatisierungen sowie Klinikschließungen fallen auch immer mehr Notaufnahmen weg oder haben nur noch wenige Ressourcen zur Verfügung. Weitere Wege und längere Fahrzeiten sind das Ergebnis dieser Entwicklung. In Extremfällen wird der Rettungsdienst sogar von einer Notaufnahme zur nächsten geschickt, weil schlicht keine Kapazitäten für die Versorgung vorhanden sind. Hier sind besonders die Krankenhäuser und Kostenträger der Krankenhäuser gefragt, genügend Kapazitäten für die Versorgung der Patienten bereitzustellen und ein Weiterfahren zur nächsten Notaufnahme zu verhindern. Daneben sieht das BRK ein großes Potenzial durch die Möglichkeiten der Telematik und Telemedizin für die Verbesserung der Übergabe von Patienten an die Notaufnahmen der Krankenhäuser.
Schon jetzt können mit dem NIDA Pad, einem Gerät zur elektronischen Erfassung von Patientendaten und der telemedizinischen Übertragung in die Krankenhäuser, die Übergabeprozesse vom Rettungsdienst in die Notaufnahmen qualitativ verbessert und beschleunigt werden.
Die Notfallversorgung im Krankenhaus lässt sich durch das Plus an Informationen schlicht gezielter vorbereiten.
Prof. Dr. Med Lorenzl, Chefarzt Neurologie im Krankenhaus Agatharied
Aber die Möglichkeiten sind hier längst noch nicht ausgeschöpft. Das Krankenhaus Agatharied erprobt derzeit auch die Kombination von Videotechnik, um ambulante Palliativ-Teams bei Bedarf vor Ort mit einer breiteren Expertise zu unterstützen. In Zukunft ist auch vorstellbar, dass Notfallsanitäter durch Notärzte oder Experten am Einsatzort unterstützt werden, um wertvolle Zeit zu sparen. Die Möglichkeiten der Telematik sind riesig. Derzeit nutzt nur ein geringer Teil der bayerischen Krankenhäuser das NIDA Pad. Damit die Übergabeprozesse von Patienten in den Notaufnahmen beschleunigt und verbessert werden, muss die Telematik in Zukunft aber flächendeckend in Bayern eingesetzt werden.
Der richtige Modus Operandi: Weniger Alarmierung, mehr Respekt und Achtsamkeit
Zu guter Letzt muss sich auch das Anspruchsdenken in der Bevölkerung und der allgemeine Umgang mit dem Rettungsdienst ändern. Wie die Fußballprofis auf dem Rasen sind auch die Einsatzkräfte des Rettungsdienstes auf den Support durch ihren "12. Mann" angewiesen. Hier zeigen sich Tendenzen, die zu einem gefährlichen Belastungszuwachs führen. So wählen beispielsweise immer mehr Menschen die 112, obwohl kein akuter Notfall vorliegt. Auch bei der Bildung von Rettungsgassen oder am Unfallort selbst kommt es zunehmend zu einer immer rücksichtsloser ausfallenden Behinderung von Einsatzkräften. Hier ist Aufklärungsarbeit bei den zentralen Punkten gefragt: der Pflicht zur Leistung von erster Hilfe, dem Wissen darüber, wann die 112 genutzt werden darf, und dem Verhalten am Einsatzort.
Es läuft etwas schief in unserer Gesellschaft, wenn der Rettungsdienst immer häufiger außerhalb eines Notfalls alarmiert wird und bei echten Notfällen Einsatzkräfte behindert oder sogar tätlich angegangen werden.
Andreas Estermeier, Leiter integrierte Leitstellen und Landrettung
Es braucht wieder mehr Respekt vor den Einsatzkräften. Der unermüdliche Einsatz der Haupt- und Ehrenamtlichen Helfer des Bayerischen Roten Kreuzes ist keine Selbstverständlichkeit.
Für das funktionierende System der Hilfeleistung in Bayern ist jetzt eine gemeinsame Anstrengung der Politik, der Krankenkassen, der Bevölkerung und der Hilforganisationen nötig, damit der Rettungsdienst in Zukunft Rahmenbedingungen für eine bestmögliche Versorgung der Menschen in Bayern vorfindet.
Theo Zellner, Präsident Bayerisches Rotes Kreuz